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Duisburg: Prof. Wendelin begleitet Jugendhilfeprojekt
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Duisburg: Prof. Wendelin begleitet Jugendhilfeprojekt

Sie sind schwer zugänglich, oft traumatisiert, haben Drogenprobleme oder kriminelle Tendenzen: Die Jugendlichen, die in den individualpädagogischen Kleinstgruppen der Graf Recke Stiftung landen, haben meist schon einen langen Weg hinter sich. Sie scheinen „durchs Raster gefallen“, finden nicht ihren Platz in der Gesellschaft. In den betreuten Wohngruppen mit nur maximal drei Jugendlichen erhalten sie ein neues Zuhause. „Diese Wohnform ist nicht selten die letzte Chance für die jungen Menschen, in einer offenen Gruppe zu leben, in der sie akzeptiert werden“, sagt Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Holger Wendelin von der EvH Bochum. Er hat das außergewöhnliche Konzept eineinhalb Jahre lang wissenschaftlich begleitet – mitten in Duisburg-Marxloh. Der akzeptierende Ansatz in der hochintensiven Betreuung von Jugendlichen, bezeichnet er als tägliches „Ringen zwischen Freiheit und Struktur“.

Kein Tag ist wie der andere in der Marxloher Wohngruppe. Die Jugendlichen kommen und gehen, wann sie wollen – machen auch mal die Nacht zum Tag. Es gibt nur wenige feste Strukturen und Regeln, keine Strafen, dafür viele Konflikte. „Diese Jugendlichen sind mit Regelangeboten nur noch schwer zu betreuen und nehmen diese auch größtenteils gar nicht mehr an“, sagt Prof. Wendelin. „Statt starrer Vorschriften lässt man sie darum erst mal so sein, wie sie sind, um sie überhaupt zu erreichen. Niemand fliegt aus der Gruppe, wenn er Mist gebaut hat. Das gibt Sicherheit.“

Die Massage lautet: Wir halten Dich aus, so wie Du bist! Diese ‚extensive‘ Herangehensweise sei ungewöhnlich, nur in Bremen gebe es ein vergleichbares Konzept, so Prof. Wendelin: „Das spiegelt den Trend der letzten 20 Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe, nämlich dass man stark auf starre Grenzen und Strukturen gesetzt hat, bis hin zur geschlossenen Unterbringung. Konzepte wie das in Marxloh brechen das jetzt langsam auf.“

Prof. Wendelin ist Mitglied im fachlichen Beratungsgremium, das die hochintensiven Betreuungen von Anfang an begleitet. Im Gremium sind außerdem u. a. Vertreter_innen des Landesjugendamts, der LVR-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, des Diakonischen Werks und der Stadt Düsseldorf. Für die Evaluation lebte der Erziehungswissenschaftler selbst tageweise in der Kleinstgruppe in Marxloh, führte teilnehmende Beobachtungen durch und erhielt so einen authentischen Einblick in den Alltag. Zusätzlich wertete er die Hilfeplanakten der Jugendlichen aus und führte etwa 30 Interviews – auch mit dem Betreuungspersonal, mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie und den Jugendämtern.

Seine Bilanz? „Das Konzept ist anspruchsvoll, personalintensiv und auch nicht ohne Risiko. Die Jugendlichen fallen durch aggressives Verhalten auf, gegen sich und andere. Allein in der einen Wohngruppe arbeitet ein Team aus 16 Leuten im Schichtdienst. Es ist ein tägliches Ringen im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Struktur“, sagt Prof. Wendelin. Das werde auch nicht aufhören und sei immer eine Teamaufgabe: „Und trotz allem ist das Konzept ein Erfolg, denn es funktioniert und verbessert Zukunftschancen.“ Die Wohngruppe biete eine zuverlässige und bedingungslose Beheimatung, ohne dass den Jugendlichen mit Gewalt ihr Verhalten abgewöhnt werden soll – auch wenn es natürlich ein intensives, sozialpädagogisches Betreuungsangebot gebe.

Der Standort in Duisburg-Marxloh mache die Betreuungsarbeit aber besonders herausfordernd. „Die Verlockungen im Stadtteil haben die Jugendlichen ständig vor der Nase. Das führt bei allen Vorteilen einer großen Milieunähe auch dazu, dass sie sich gegenseitig negativ beeinflussen und mitziehen.“ Weitere Einrichtungen dieser Art liegen eher im ländlich-dörflichen Raum – „das kann einiges erleichtern“, sagt der Experte.

Wie es weitergehen soll? Derzeit wollen die Verantwortlichen in unmittelbarer Nachbarschaft neue Wohnformen aufbauen, in denen die Klient_innen nach ihrem Auszug weiter betreut werden können. „Diese Kontinuität ist wichtig. Es gibt keinen krassen Bruch nach dem Auszug und die Leute müssen auch nicht zurück in eine Regelhilfe, die sie nicht akzeptieren.“ Das Gesamtkonzept hält Prof. Wendelin auch für andere Jugendhilfeträger für zukunftsfähig.


Ringen zwischen Freiheit und Struktur: Prof. Dr. Holger Wendelin von der EvH Bochum hat das ungewöhnliche Betreuungskonzept wissenschaftlich begleite und lebte dafür tageweise in der Marxloher Wohngruppe.
(© Graf Recke Stiftung)

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