Studentin Julia Bathaeian sammelt neue Erkenntnisse beim „Sanatorium für Diversität“
Therapieplätze sind rar und begehrt. Kein Wunder also, dass sich an einem Montagnachmittag im Mai so viele Interessierte in den Fluren der EvH Bochum einfinden, um ein besonderes Angebot der Hochschule in Anspruch zu nehmen: Sie alle wollen Teil des „Sanatoriums für Diversität“ sein und an den künstlerischen „Therapieangeboten zur Heilung der Gesellschaft“ teilnehmen.
Lange Schlangen bilden sich vor der Rezeption, die für diesen Tag eingerichtet wurde. Dahinter: Freundliche Gesichter, die die Patient_innen begrüßen. Menschen in langen weißen Kitteln, die Klemmbretter verteilen: „Bitte nehmen Sie in unserem Wartebereich Platz und füllen Sie den Anamnesebogen aus!“ Auch Julia Bathaeian hat sich eingereiht, kriegt einen Zettel mit der Nummer 36 in die Hand gedrückt und muss warten. Die Studentin besucht den Fachtag gemeinsam mit einer Kommilitonin. Doch viel Zeit werden die beiden heute nicht miteinander verbringen, denn die Therapiepläne sind hochindividuell und ergeben sich erst aus den ausgefüllten Fragebögen. „Wie fühlen Sie sich heute?“ heißt es da, oder: „Wie sehr fühlen Sie sich in der Lage, Ihr Leben selbst zu gestalten?“ Julia kreuzt „neugierig“ und „meistens ganz gut“ an und macht weitere Angaben zu persönlichen Ängsten und Eigenschaften. „Ich habe weder Angst vor Dunkelheit, noch gibt es Tabuthemen, über die ich mich nicht traue zu sprechen. Ich bin also gespannt, welche Maßnahmen ich hier überhaupt verordnet kriege“, sagt die 33-Jährige, die an der EvH den Master „Soziale Inklusion: Gesundheit und Bildung“ studiert.
Selbstreflexion ankurbeln
„Natürlich führen wir hier keine echte Therapie zur Behandlung von Krankheiten aus“, erklären Prof. Dr. Helene Skladny und Prof. Dr. Çinur Ghaderi, die die Aktion gemeinsam mit vielen engagierten Studierenden aus ihren Seminaren auf die Beine gestellt haben: „Wir wollen einen künstlerischen Zugang zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen schaffen, z. B. zum Thema Einsamkeit, Self-Care oder Diskriminierung. Unser Sanatorium hat das Ziel, die Selbstreflexion anzukurbeln und eine Verbindung zu solchen Themen zu schaffen.“
Die Atmosphäre ist trotzdem ziemlich authentisch. Sogar ein sanft miefig-piefiger Praxis-Duft stellt sich so langsam in den Gängen ein. „Bei uns gibt es keine Privatpatienten. Alle müssen warten“, ruft Prof. Ghaderi lachend den Ausharrenden zu. „Aber es geht jetzt jeden Moment los!“ Dann ist es so weit: Ein tiefer, metallischer Gong ertönt. Die ersten werden aufgerufen und in Gruppen zu ihrer Therapie geführt. Auch die Nummer 36 ist irgendwann dabei und Julia findet sich gemeinsam mit vier weiteren Teilnehmenden bei Station 1 wieder: Affirmationstherapie. Draußen. Auf Kissen in der Sonne. Erstmal schön.
Das Thema ist dann aber doch recht ernst und eher bedrückend: Die zunehmende Isolierung in unserer Gesellschaft steht im Mittelpunkt und die Frage „Brauchen wir andere Menschen zum Glücklichsein?“. Um Gedanken und Gespräche anzustoßen, gibt es einen großen Stapel Karten, die die Teilnehmenden durchstöbern. Die Affirmationskarten enthalten Aussagen in der Ich-Form, die zuversichtliche Denkweisen und Selbstvertrauen fördern sollen. Julia entscheidet sich für „Ich erlaube mir nur Positives in meinem Leben“. Nach fünf Minuten Stillarbeit erklärt sie der Gruppe warum: „Ich denke, das Eine kommt gar nicht ohne das Andere aus. Auch Negatives will ich mir gezielt erlauben, um zu lernen, konstruktiv damit umzugehen“, sagt sie selbstbewusst. Als die anderen ihre Gedanken zum nächsten Stichwort („Gutes Leben heißt für mich…“) teilen, zieht Julia heimlich ein kleines, grünes Büchlein aus ihrem Rucksack und macht sich selbst Notizen: „Für mein Essay“, lächelt sie vielsagend. „Ich beschäftige mich nämlich gerade intensiv mit dem Inklusionsbegriff und will den Gedanken aus der Gruppe gleich mitnehmen – nämlich, dass ‚gutes Leben‘ für jede_n etwas anderes bedeutet und nicht gleichbleibenden Kriterien unterliegt.“ Das mit der Selbstreflexion klappt also schon mal ganz gut.
Ungewöhnliche Therapien in ungewöhnlichen Zeiten
Auf dem Weg zur nächsten Therapie passiert Julia viele ihrer Mitstudierenden in ungewöhnlichen Settings: Eine gut behütete Patient_innengruppe, die sich gemeinsam als „Hutwanderungstherapie" in Bewegung setzt. Die „Teetherapie“, ein mit Teppichen, Sitzkissen und Samowar ausgestatteter Pavillon im Freien. Die „Spiegeltherapie“, die einen beeindruckenden Raum der Selbstbefragung und Reflexion zur Verfügung stellt. Vorbei an der multimedialen und interaktiven „Datteltherapie“, bei der Teilnehmenden gerade dabei sind, aus gesunden Zutaten „Energy Balls“ zu formen. Zwischendurch fragt eine kleine Gruppe nach dem Weg zur „Dunkeltherapie“, die in einem abgelegenen Raum der Hochschule angeboten wird. Wie wir später erfahren, werden sie dort ein mit Zelten und allerhand Decken und Kissen ausgestatteten Raum vorfinden, in dem es um das geschützte Teilen von „Geheimnissen“ geht.
Die vielen kreativen Umsetzungsformen kommen aber alle von unseren Studierenden selbst“, erklärt Prof. Skladny stolz. „Wir glauben, dass die gesellschaftlichen Probleme ungewöhnliche Herangehensweisen und ein weites Denken erfordern – und zwar außerhalb des Rahmens. Genau diese Haltung wollen wir bei unseren Studierenden stärken.“
Bei Station 2 ist dann Kreativität gefragt. Und Fingerspitzengefühl: Bei der „Heilfäden-Therapie“ warten auf die Teilnehmenden beschriftete Stofffetzen, die dringend eine Reparatur nötig haben: Stichworte wie „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Religiöse Diskriminierung“ sind darauf zu lesen. Julia muss nicht lange überlegen, greift zu einem mausgrauen Filz mit der Aufschrift „Geschlechterstereotype“ und macht sich daran, den Stofflappen mit Wollfäden zu verzieren. Statt blau und pink wählt sie bunte Wolle in sonnigen Farben, dazu alte Knöpfe und ein einzelnes, rotes Röschen: „Ich möchte damit ausdrücken, dass Stereotype sich erst über die Zeit entwickeln oder entwickelt haben – wir können unsere Blickrichtung aber wechseln und unsere Ansichten ändern.“ Das umgestaltete Stück Stoff in ihrer Hand wird letztendlich Teil eines riesigen Patchworks. „Das Gesamtbild präsentieren wir dann in unserer Ausstellung, die wir noch zum Semesterende planen“, verrät Svenja Schüßler aus dem Team der „Therapeut_innen“, die die Einzelteile fachmännisch an der Nähmaschine zu einem großen Ganzen verbindet.
Hochschule als Spielwiese
Auf dem Rasen neben dem Haupteingang der EvH kommen die Teilnehmenden abschließend dann noch miteinander in Körperkontakt „Hier steht vor allem der Spaß im Vordergrund“, sagt Manta, die die „Spieletherapie“ coacht. Wie die Kinder klatschen, lachen, bewegen sich die Teilnehmenden über die Spielwiese. Alle 30 Sekunden wechselt das Gegenüber. „Hier üben wir spielerisch, sich zu konzentrieren, sich auf andere einzulassen – und auch, nicht immer alles so ernst zu nehmen.“ Ein guter Rat für die spätere Berufspraxis der Studierenden.
Und was nimmt Julia mit von ihrem Therapietag an der EvH? „Auf jeden Fall neue Inspiration für mein Lehr-Forschungsprojekt, zu dem ich gerade mit einer Kommilitonin arbeite. Solche Events sind auch eine super Möglichkeit mit Studierenden, auch aus anderen Studiengängen, und Leuten aus der Praxis in Kontakt zu kommen. Und generell unterstütze ich alles, was abseits von der Standard-Lehre angeboten wird – damit mehr Leute die Hochschule mit einer echten Haltung statt nur mit einem Abschluss verlassen.“
Redaktion: Carmen Tomlik