Im Rahmen der Lehrveranstaltung „Einführung in die Disability Studies“ besuchten Studierende der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik mit Seminarleiterin Franziska Witzmann am 28.10.2022 das Archiv in Dortmund – und damit einen Ort, der einen ganz besonderen Blick auf die Geschichte der Behindertenbewegung und die Wurzeln der Disability Studies ermöglicht.
Das Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe ist eines von drei Archiven der deutschsprachigen Behindertenbewegung und wird seit 2013 unter dem Dach des Vereins MOBILE Selbstbestimmt Leben Behinderter e.V. aufgebaut. Das Archiv befindet sich in den Räumen von MOBILE, nebenan beraten behinderte Menschen andere behinderte Menschen zu Fragen eines selbstbestimmten Lebens. Die eingangs zitierte Teilnehmerin hatte offenbar mit einem labyrinthartigen riesigen Kellergewölbe gerechnet. Was wir stattdessen vorfinden: einen bescheidenen Büroraum mit zwei Arbeitsplätzen und hohen Regalen. Dazu einen weiteren Lagerraum mit noch mehr Regalen. Und auch darin viele graue Kartons, sorgfältig beschriftet und geordnet. Doch der wahre Wert eines Archivs – das haben wir gelernt – zeigt sich nie in seiner Größe oder Oberfläche, sondern in Inhalt und Zugänglichkeit.
Archivar Wolfgang Wilkop zeigt den Studierenden das Archiv.
Herzlich begrüßten Vereinsgründerin und Vorstand von MOBILE Dr. Birgit Rothenberg und Archivar Wolfgang Wilkop ihre Gäste von der EvH, die teils auch online dazugeschaltet waren, und stellten zunächst Geschichte und Angebote des Archivs vor. Als „Aktivistin der ersten Stunde“ vermittelte Birgit Rothenberg auf sehr anschauliche Weise, wie sich die Behindertenbewegung in Deutschland formierte und welche Themen und politischen Forderungen – bis heute nahezu unverändert – mit ihr verbunden sind: z.B. Barrierefreiheit, Selbstbestimmung, Deinstitutionalisierung, Schutz vor Gewalt und Diskriminierung.
Das Archiv umfasst Quellen und Materialien zur Geschichte der emanzipatorischen Behindertenbewegung und behindertenpolitischen Selbsthilfe. Grundstein des Archivs bildet die Sammlung von Gusti Steiner und Birgit Rothenberg, die seit 1974 bis zum Tod von Steiner 2004 entstand. Inzwischen gehören weitere Sammlungen in den Bestand des Archivs, u.a. der Nachlass von Dr. Volker van der Locht (Lehrender der EvH RWL sowie Mitarbeiter von BODYS, gest. 2021). Im Unterschied zu den anderen beiden Hauptarchiven der deutschsprachigen Behindertenbewegung bidok und Archiv Behindertenbewegung ermöglicht die Dortmunder Sammlung Zugang zu nicht veröffentlichten Materialien, die aber die Prozesse der politischen Arbeit behinderter Aktivist_innen auf einzigartige Weise dokumentieren. Dazu gehören z.B. Protokolle über Planungsgespräche zum „Krüppeltribunal“ 1981 oder Entwurfsfassungen für Aufrufe und Protestschreiben. Mit Hilfe des Archivs lässt sich nachvollziehen, wie sich Strukturen, Orte, Prozesse verändert haben, wie die Veränderungen angestoßen wurden, wer beteiligt war. Besonders die „Unsichtbaren“, die nicht in irgendeiner Form publiziert haben, können auf diese Weise Sichtbarkeit erlangen.
Wer mit dem Archiv arbeiten möchte oder sich einfach mal einen Überblick über den Bestand machen will, nimmt am besten den Online-Zugang über Archive in Nordrhein-Westfalen. Auf der Startseite z.B. über „politische Archive“ suchen und dann den Standort Dortmund wählen.
Im Namen der Exkursionsgruppe dankt Franziska Witzmann sehr herzlich dem Verein MOBILE und besonders Dr. Birgit Rothenberg und Wolfgang Wilkop für ihr Engagement.
MOBILE ist Kooperationspartner von BODYS, Dr. Birgit Rothenberg ist Mitglied im BODYS-Beirat.
15.11.2022, Franziska Witzmann (BODYS)