"Disability Studies - Forschungszweig der Behindertenbewegung?": Diese Frage diskutierten jetzt Teilnehmer_innen des BODYS-Workshops auf der Disability Studies Konferenz, die vom 19. bis 21. Oktober 2018 an der Humboldt Universität sowie an der Alice Salomon Hochschule in Berlin stattfand.
BODYS war mit diesem Workshop beteiligt, weil die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimnt-Leben-Bewegung und Disability Studies bei BODYS Teil der täglichen Arbeit ist. Das gilt besonders für das aktuelle Forschungsprojekt IKSL (Initiative Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben in NRW), in dem BODYS den Aufbau und die Arbeit von Kompetenzzentren für Selbstbestimmtes Leben in NRW wissenschaftlich begleitet.
Disability Studies - Forschungszweig der Behindertenbewegung?
Disability Studies gilt als theoretischer Zweig der Behindertenbewegung: Was in der sozialen Bewegung "Selbstbestimmt Leben" in der Praxis erkämpft wird, kann und soll im Rahmen von Disability-Studies-Forschung theoretisiert und reflektiert werden. Sie soll darüber hinaus zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen beitragen und hat den Anspruch der partizipatorischen Forschung. Das heiß, geforscht werden soll nicht über behinderte Menschen, sondern aus der Perspektive behinderter Menschen und unter ihrer Beteiligung.
Der Workshop wagte nun den Praxis-Check. Als Inputgeber_innen hatte BODYS drei Kooperationspartner aus dem IKSL-Projekt geladen: Nicole Andres (EvH RWL), Carl-Wilhelm Rößler (KSL Köln) und Dr. Birgit Rothenberg (TU Dortmund). Sie sprachen über ihre Erfahrungen als Disability-Studies-Forscher_innen und Aktivist_innen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Erfahrungen aus der partizipativen Forschung
Am Beispiel der partizipativen Evaluation im Projekt IKSL berichtete Nicole Andres vor allem über die Herausforderungen, die gemeinsames Forschen mit sich bringt. "Nichts über uns ohne uns" – so lautet das Motto der Behindertenbewegung. Es ist kein Geheimnis, dass echte Beteiligung – und noch dazu barrierefreie – etliche zeitliche, strukturelle und finanzielle Ressourcen erfordert.
Darüber hinaus bewegen sich die gemeinsam Forschenden immer auch im Spannungsfeld von wissenschaftlichen Standards und Zielen einerseits und der Interessen der Bewegung andererseits. Hier die nötige Balance zu finden, braucht vor allem Vertrauen zwischen den Beteiligten, so Nicole Andres. In IKSL gelinge das wegen des Peer-Ansatzes gut - ein inklusives Forscher_innenteam mit Disability-Studies-Perspektive trifft auf Vertreter_innen der Behindertenbewegung. Zu Letztgenannten gehört auch der zweite Vortragende des Workshops: Carl-Wilhelm Rößler, Peer-Berater im KSL Köln und Ko-Forscher in IKSL.
Empowerment...durch Forschung
In seinem Input blickte er aus der Praxis auf die Disability Studies. Die verschiedenen Modelle von Behinderung, die in den Disability Studies entwickelt wurden, seien wesentliche Grundlage für die praktische Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen. Allen voran hat das soziale Modell von Behinderung den Weg zu selbstbestimmtem Leben freigemacht und den gesellschaftlichen Blick auf Behinderte so verändert, dass sie als Expert_innen ihrerselbst gelten – eine wesentliche Grundlage für Peerberatung und Beteiligung an (politischen) Gestaltungsprozessen.
Diesen Aspekt griff auch Birgit Rothenberg im dritten Input auf: Fragen und drängende Probleme aus der Praxis der Interessenvertretung können mit wissenschaftlicher Begleitung und Analyse weniger leicht "vom Tisch gewischt" werden. Das illustrierte sie etwa an einem Forschungsprojekt zur begleiteten Elternschaft (von Menschen mit Behinderungen), das der Verein "MOBILE - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V." in Auftrag gegeben hatte. Politik und Sozialleistungsträger reagierten auf die Idee der Elternbegleitung zunächst skeptisch – angesichts der Forschungsergebisse akzeptierten sie den Vorschlag jedoch, und begleitete Elternschaft ist heute ein anerkanntes Konzept selbstbestimmten Lebens.
Empowerment...durch Akademisierung
Durch die akademische Lehre, so Rothenberg weiter, tragen Disability Studies schließlich auch Konzepte der Behindertenbewegung in die Ausbildung zukünftiger Fachkräfte der verschiedensten Berufsfelder hinein. Rothenberg skizzierte den Weg, den die Behindertenbewegung über die Disability Studies in die wissenschaftlichen Institutionen genommen hat, und die Hindernisse, auf die sie dabei immer noch stoßen. So besteht etwa nach wie vor erheblicher Bedarf an Förderung des behinderten wissenschaftlichen Nachwuchses im deutschen Hochschulsystem.
Anspruch und Wirklichkeit im Verhältnis von Forschung und sozialer Bewegung waren auch Gegenstand der anschließenden Talkrunde mit allen Workshop-Teilnehmer_innen. Hier kam das Machtgefälle zur Sprache, das sowohl in der Beratungspraxis als auch in der Forschung besteht. Seine Ursachen liegen im Mangel an geteilten Erfahrungen und damit an Vertrauen.
Abhilfe sahen die Teilnehmenden im Peer-Ansatz; sie diagnostizierten gleichzeitig ein erhebliches Forschungsdesiderat in diesem Punkt. Moderator H.-Günter Heiden hielt dies als Forschungsauftrag der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung an die Disability Studies fest und beschloss den Workshop mit dem Fazit: "Es gibt eine starke Partnerschaft zwischen Akteur_innen der Behindertenbewegung und der Disability Studies, um neue Ressourcen zu heben und einzufordern!"
Weitere Informationen zur Tagung gibt es unter: www.disko2018.de
Beiträge aus dem Workshop können nachgelesen werden unter: https://bodys.evh-bochum.de/aus-den-veranstaltungen.html