"Verhaltensauffälligkeiten jenseits von Therapie und Trainingsprogrammen - zurück zur Heilpädagogik": Rund 90 Interessierte waren am 24. Januar 2020 zum Tag der Heilpädagogik 2020 an die EvH RWL gekommen. Neben Workshops und Diskussionsforen stand der Vortrag von Prof. Dr. Mai-Anh Boger von der Universität Paderborn auf dem Programm. Thema: "Zur vergessenen ‚Evidenz‘ des Verstehens von Verhaltensauffälligkeiten". Boger betrachtete hier die Thematik der Wirksamkeitsforschung im (heil-)pädagogischen Kontext. Es schloss sich eine rege Diskussion an.
Nach der Mittagspause stellte Doris Albert vom Berufs- und Fachverband Heilpädagogik (BHP) e.V. Rahmenbedingungen tariflicher Eingruppierungen für Heilpädagog_innen vor. Der Nachmittag bot drei Workshops, angelehnt an das Tagungsthema und durchgeführt von den Lehrenden der EvH. Zahlreiche ehemalige Studierende der Evangelischen Hochschule nutzten den Tag nicht zuletzt, um ehemalige Studienkolleg_innen und Lehrende wiederzusehen und sich auszutauschen.
Dazu bot sich auch das Alumnitreffen an, das von Prof. Dr. Kathrin Römisch und Marlies Berger-Albers organisiert worden war. Überdies gab es eine Expert_innen-Runde, in der Heilpädagog_innen aus verschiedenen Praxisfeldern Einblicke in ihre Tätigkeitsbereiche gaben und für Fragen offen waren. Das Publikum des Fachtages war insgesamt gemischt und setzte sich aus Heilpädagog_innen mit mehrjähriger Berufserfahrung, Studierenden und sogar interessierten Schüler_innen zusammen.
Zum Hintergrund: Durch die Dominanz eines medizinischen Verständnisses von "psychischer Krankheit" wird auch in pädagogischen Diskursen ein pathologisierendes und biologistisches Bild von Verhaltensauffälligkeiten salonfähiger. Die Rhetorik um ‚Evidenzbasierung‘ hat diese Dynamik noch verstärkt – stammt doch auch dieses Schlagwort ursprünglich aus der Medizin.
Grundständig pädagogische Begriffe wie jene der ‚Erziehungsbedürftigkeit‘ und der ‚Erziehungsprobleme‘ und die dazugehörigen pädagogischen Praktiken werden zunehmend durch klinische Begriffe, therapeutische Manuale und evidenzbasiert für wirksam erklärte Interventionen verdrängt. Im Eröffnungsvortrag wurde daher erörtert, in welchem Zusammenhang die Diskurse um Evidenzbasierung, Psychologisierung und Manualisierung stehen.
In Abgrenzung zu jenem evidenzbasierten Manual-Eklektizismus wurde sodann ein anderes, ein grundständig pädagogisches und zugleich altes Konzept revitalisiert: der Verstehensansatz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik mitsamt seiner heilpädagogischen Wendung, dass die dialogische Haltung Grundbedingung für die Erfahrung evidenten Wachstums im pädagogischen Verhältnis ist.
Was als ‚evident‘ und ‚praxistauglich‘ erscheint, ist nicht ein als wirksam evaluiertes Manual, sondern vielmehr die pädagogische Weisheit, dass menschliches Verhalten verstanden werden will und dass dieses Verstanden-Werden im emphatischen Sinne selbst eines der wirkmächtigsten Mittel zur Veränderung zwischenmenschlicher Kommunikationen ist.