"mensch.macht.rasse": Die Vorgeschichte zum Fachtag skizzierte EvH-Rektorin Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann gleich zu Anfang in ihrer Begrüßungsrede. So sei es rund ein Jahr her, dass die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe von den Machern des Chormusicals Martin Luther King angesprochen worden sei, ob sie nicht eine inhaltliche Begleitveranstaltung anbieten wolle. Das Musical ist ein Projekt der Stiftung Creative Kirche und tourte bereits erfolgreich quer durchs Bundesgebiet. "Das haben wir gerne aufgegriffen", so Graumann.
Herausgekommen ist der Fachtag "mensch.macht.rasse", zu dem EvH und das Transfernetzwerk Soziale Innovation - s_inn am Montag, 13. Januar 2020, von 14 bis 21 Uhr in die Kammerspiele des Schauspielhauses Bochum einluden. Offenbar hatten die Organisator_innen um Forschungsreferentin Sinem Malgac einen Nerv getroffen. Kamen doch rund 100 Interessierte zum spannenden Programm aus Vorträgen, Podiumsdiskussion und politischem Kabarett.
Die Idee verdeutlichte Sigrid Graumann noch etwas ausführlicher: Anlässlich des Musicals zum Gedenken an den Bürgerrechtler Martin Luther King, der 1964 den Friedensnobelpreis erhielt und 1968 von einem mehrfach vorbestraften Rassisten in Memphis erschossen wurde, sollte beim Fachtag über rassistische Einstellungen und Praktiken gesprochen und dafür sensibilisiert werden. Ziel war dabei jedoch nicht, die aktuelle Situation in den USA, sondern "die Kontinuität und Ausprägungen von Rassismus hierzulande aus unterschiedlichen Perspektiven zu thematisieren", so die EvH-Rektorin.
Mit Blick auf die Ausprägungen identifizierte Graumann drei Aspekte, die immer wieder eine Rolle spielten und das Phänomen so "zäh" machten: Überzeugunen von Über- und Unterlegenheit, soziale Ungleichheit, die durch entsprechende Politik stabilisiert wird, sowie psychische und physische Gewalt, die sich immer wieder in Anschlägen entlädt oder auch als staatliche Gewalt zeigt. Wolle man Rassismus überwinden, gelte es, das Phänomen in all seinen Ausprägungen besser zu verstehen. Dazu trügen nicht zuletzt jene Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen bei, die beim Fachtag "mensch.macht.rasse" anwesend seien.
Neben theoretischem Input aus den verschiedenen Vorträgen erhielten die Teilnehmenden auch einen praktischen Einblick ins Themenfeld. So bestand etwa die Möglichkeit, sich an Infoständen im Foyer mit lokalen Gruppen auszutauschen, die sich zu Themen wie Rassismus, Flucht und Migration engagieren. Gekommen waren Vertreter_innen der "Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum", von Amnesty International, dem Flüchtlingsrat NRW, des literarischen Demokratieprojekts "Neu in Deutschland", der Creativen Kirche selbst und der "Unabhängigen Beschwerde- und Informationsstelle Flucht", einem Pilotprojekt des Transfernetzwerks Soziale Innovation - s_inn an der EvH.
Moderiert wurde die Veranstaltung von EvH-Prorektorin Cinur Ghaderi, die die Anwesenden dazu ermutigte, in regen Austausch zu treten und miteinander zu diskutieren. Sie sei sich dessen bewusst, dass der Titel "mensch.macht.rasse" ein Stück weit provoziere und auch die Kombination von Humor und Rassismus, der sich das politische Kabarett zum Abschluss des Abends verschreibe, keine "einfache Sache" sei. Dennoch diene auch dies dem Ansinnen, sich intensiv mit rassistischen Praktiken zu befassen, daraus zu lernen und sich Fragen zu stellen wie: Was heißt das eigentlich genau? Wo steht hier jeder Einzelne, als Person und als Institution?
Den Auftakt machte Dr. Fabian Alexander Georgi von der Philipps-Universität Marburg mit seinem Vortrag "Kritik der Migrationspolitik - zur Rolle von Grenzregimen im Kapitalismus". Georgi ging von der Frage nach den Ursachen für die Politik einer „Abschottung“ gegenüber Migrant_innen aus, welche keineswegs selbstverständlich sei. Schließlich ließe sich Migration genauso als positives Zeichen dafür deuten, dass Menschen negative Lebensbedingungen nicht ‚einfach‘ akzeptierten und ihre Autonomie behaupteten.
Als wesentliche drei „Triebkräfte der Abschottung“ analysierte er im Weiteren 1.) Rassismus, 2.) eine „nationale Formbestimmung des Politischen“, die sich mit materiellen Zugeständnissen an die ‚Einheimischen‘ verbinde, sowie 3.) die imperiale, kapitalistische Lebensweise des ‚Nordens‘, die durch Grenzregime stabilisiert werde. „Erst die Festung Europa“, so resümierte Georgi hier, ermögliche „die Ignoranz gegenüber den Lebensbedingungen in anderen Ländern“. Den Abschottungspolitiken stellte Georgi am Ende seines Vortrags die Perspektiven der Internationalisierung und der Menschenrechte gegenüber: Durch diese könne „Staatsbürgerschaft“ als schlicht „feudales“ und ethisch eigentlich nicht legitimierbares Prinzip der Ein-/Ausgrenzung grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Ihm folgte Prof. Dr. Karim Fereidooni von der Ruhr-Universität Bochum mit seinen Ausführungen zum Thema "Alltagsrassismus am Beispiel der Institution Schule". Er wies zunächst auf die allgemeine Relevanz einer rassismuskritischen „Analysebrille“ hin, da, und hier folgte er der These des Migrationsforschers Mark Terkessidis, jede in Deutschland sozialisierte Person „rassistisches Wissen“ besitze. Selbst bei „vermeintlich unverdächtigen“ Kinderbuchautoren wie Janosch ließen sich etwa abwertende resp. stereotype Darstellungen von Migrant_innen als eine Quelle eines solchen Wissens finden.
Bei seinem Blick auf Alltagsrassismus in Schulen bezog sich Fereidooni vor allem auf die Erfahrungen von Lehrkräften. Anhand von Interviewzitaten aus seiner Dissertation zeigte er eindrücklich, welche abwertenden Zuschreibungen Lehrer_innen in ihrem beruflichen Alltag erleben, die von Kolleg_innen und Schüler_innen als ‚nichtdeutsch‘ wahrgenommen werden. Rassismuskritik und eine entsprechende Selbstreflexion müssten generell forciert, aber eben auch, so Fereidooni am Ende seines Vortrags, zu einem festen Bestandteil der Ausbildung von Lehrer_innen werden.
Im Anschluss daran präsentierte Irina Toteva vom „Elternnetzwerk NRW – Integration miteinander e.V.“ Ergebnisse zu Rassismuserfahrungen von Vertreter_innen afrikanischer Vereine aus NRW. Sie bezog sich dabei auf eine Befragung, die im Rahmen des kürzlich abgeschlossenen und von ihr geleiteten Projektes „Dialog Afrika“ durchgeführt wurde. Toteva zeigte eindrücklich, dass Rassismus eine mehrheitlich geteilte Erfahrung der Umfrageteilnehmer_innen ist, die sich zudem auf viele Situationen ihres alltäglichen Lebens – etwa die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Wohnungssuche, Arbeit, Kontakte zu Behörden, den Besuch von Supermärkten oder Restaurants – erstreckt.
Sich viel mit Rassismus und dessen Ursachen zu beschäftigen, sei daher, so Toteva weiter, für viele der Befragten ‚normal‘. Als „Schutzräume“ nähmen sie nicht zuletzt Formen der Vergemeinschaftung in der eigenen ‚Community‘ wahr. "Desintegriert Euch!": Nach einer Kaffeepause befasste sich Dr. Max Czollek, Kurator, Lyriker und Autor des viel diskutierten, 2018 erschienenen Buches „Desintegriert Euch!“ aus Berlin, mit möglichen Gegenstrategien in Bezug auf Diskriminierung und Zuschreibungen.
Solche Strategien lotete Czollek mit Blick auf den künstlerischen Bereich, insbesondere das Theater aus. Hierbei wies er zunächst auf eine schwierige Dialektik hin: Zwar hätten sich durch die Öffnung der Theater für mehr Diversität die Chancen erweitert, auch Perspektiven jenseits der ‚weißen, männlichen‘ Dominanzkultur auf die Bühne zu bringen. Zugleich verbinde sich damit aber die häufige Erwartung an die Künstler_innen, Diskriminierungserfahrungen „authentisch“ zu thematisieren – also „ein Fokus auf die Lebensgeschichten und Körper der Diversen“, wie es Czollek formulierte.
Dennoch gäbe es aber Möglichkeiten, produktiv – oder: subversiv – auf solche Erwartungshaltungen zu reagieren. Eine Gegenstrategie könne darin bestehen, das Konzept der Authentizität zu konterkarieren und etwa, so Czollek abschließend, ein „Fake-Dokumentar-Theater“ ins Leben zu rufen. Mona El Omari, politische Bildnerin, Empowerment-Arbeiterin und Spoken Word Poetin aus Berlin, wählte abschließend die freiere Vortragsform des Flows, um unter dem Titel „As if the Truth were already true“ verschiedene „Re/Visionen von Empowerment, Individuum, Community und Liminal Spaces“ zu skizzieren.
In ihrem Flow nahm El Omari die Kategorie des „Weißseins“ in den Blick und betonte die besondere Verantwortung „weißer“ Menschen für die Kontinutität, aber auch Überwindung rassistischer Denkmuster und Praxen. Schließlich profitierten diese von Rassismus, ohne ihre Privilegien wirklich zu reflektieren. Zu diesen gehöre etwa, so El Omari, sich nur zu ausgewählten Zeiten – wie im Rahmen einer Tagung – mit Rassismus zu befassen. Sie plädierte dafür, Rassismus weniger als Problem „schwarzer“, sondern gerade auch – und hier griff sie u.a. die provokante Metapher vom „Weißsein als Psychose“ auf – als Problem „weißer“ Menschen zu sehen.
Nach einer regen Podiumsdiskussion zwischen Organisator_innen, Referent_innen und Publikum, in der u.a. die Frage nach der Verantwortung wieder aufgegriffen wurde, sorgte Simon Pearce mit seinem Programm "Allein unter Schwarzen" für einen humorvollen Abschluss.