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"Hilfe durch Zwang": Fachtag von EvH und Diakonie RWL

Mitbestimmung statt Zwang - Hochschule und Diakonie debattierten über neue Wege in der Heimerziehung

Bis in die siebziger Jahre hinein war es in der Heimerziehung üblich, den Willen der Kinder und Jugendlichen durch Gewalt und Zwang zu brechen. Heute setzen die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auf Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Doch was passiert, wenn Kinder und Jugendliche sich bewusst nicht an Regeln halten, wenn sie mit ihrem Verhalten anderen und sich selbst schaden? „Auch heute gibt es Zwangsmaßnahmen, die aus rechtlicher und ethischer Sicht kritisch sind“, sagt Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann, Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (EvH RWL) und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Dazu gehören etwa „Isolierräume“ oder Punktemodelle, mit denen das Verhalten der Kinder und Jugendlichen belohnt oder bestraft wird.

Inwiefern diese „Zwangsmaßnahmen“ die Rechte von Kindern und Jugendlichen verletzen und wie Heimerziehung heute gestaltet sein muss, um Missbrauch zu verhindern, stand im Mittelpunkt der Tagung „Hilfe durch Zwang in der Kinder- und Jugendhilfe?“. Dazu hatte die Evangelische Hochschule RWL gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) am Montag, 8. April, eingeladen. Der Wohlfahrtsverband vertritt als größter Träger der Kinder- und Jugendhilfe in NRW knapp 150 Einrichtungen mit rund 10.000 Plätzen.

Vorsicht mit „wohltätigem Zwang“

„In unseren Einrichtungen leben nicht wenige Kinder und Jugendliche, die in ihrem jungen Leben bereits Gewalt und Demütigung erfahren haben und teilweise sehr traumatisierende Erfahrungen machen mussten“, erklärte Tim Rietzke, Leiter des Geschäftsfeldes „Familie und junge Menschen“ bei der Diakonie RWL. Umso wichtiger sei es, ihnen mit Achtung und Respekt zu begegnen. Im Alltag bestehe die große Herausforderung darin, auf regelverletzendes und grenzüberschreitendes Verhalten konsequent, aber angemessen zu reagieren.

„Zu Recht betont der Deutsche Ethikrat, dass sogenannter ,wohltätiger Zwang´ nur in Betracht kommen darf, wenn die Gefahr einer schwerwiegenden Selbstschädigung besteht“, meinte Rietzke dazu. Wohltätiger Zwang dürfe in keinem Fall körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen oder andere entwürdigende Maßnahmen umfassen. Grundsätzlich sei in den Einrichtungen „größtmögliche Partizipation der Kinder und Jugendlichen selbst, aber auch ihrer Eltern und Sorgeberechtigten zu gewährleisten“.

Eine große erzieherische Herausforderung, die aber gerade angesichts der jahrzehntelangen Demütigung und Gewalt in deutschen Heimen unumgänglich ist, wie Graumann betonte. Sie hatte die aktuelle Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum Thema „Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung“ mitverfasst. In der Kinder- und Jugendhilfe liege derzeit noch einiges im Argen, indes, es werde wenig darüber geredet - "am wenigsten in der Literatur und und der öffentlichen Debatte", so Graumann.

Zwei Jahre lang hatte der Deutsche Ethikrat an seiner Stellungnahme gearbeitet und sich im Vorfeld einige Leuchtturmprojekte angesehen, die mit gewaltfreier Erziehung arbeiten. Auch gab es eine große Anhörung mit ehemals betroffenen Kindern und Jugendlichen - heute jungen Erwachsenen -, die ihre Erfahrungen schilderten. Sie selbst, so die EvH-Rektorin, habe in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe hospitiert.

"Mit der Fachtagung haben wir nun einen Dialog zwischen Theorie und Praxis darüber begonnen, wie die Ethikrats-Stellungnahme umgesetzt werden kann“, bilanzierte die Wissenschaftlerin. „Ziel ist es, dass auf Zwang in Hilfen für Kinder und Jugendliche soweit wie irgend möglich verzichtet wird." Ausschlaggebend dafür sei es, visionär zu denken und auch den Druck auf die Politik zu erhöhen, damit die richtigen - gesetzlichen - Rahmenbedingungen geschaffen werden könnten.

Tim Rietzke zeigte sich dankbar für die Positionierung des Ethikrats und dafür, dass zum Fachtag eingeladen worden sei. Dass großes Interesse an dem Thema bestehe, habe allein schon die Tatsache gezeigt, wie schnell die Tagung ausgebucht war. "Und wir werden weitere Veranstaltungen folgen lassen." Denn das Thema sei ein Prozess, der sich nicht durch eine einzige Fachtagung abarbeiten lasse, wie auch Pastorin Barbara Montag, Stabsstellen-Leiterin Theologie und Grundsatzfragen bei der Diakonie RWL, klarstellte.

Kritik an geschlossener Unterbringung

Zu den angesprochenen Zwangsmaßnahmen zählt für Prof. Dr. Dirk Nüsken von der EvH RWL die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Sie hat sich seit 1996 mit inzwischen knapp 400 Plätzen bundesweit mehr als verdreifacht. „Hier werden Fehler des Jugendhilfesystems wie eine mangelnde Personalausstattung und Hilfeplanung, Versäumnisse in früheren Hilfen und Zeitmangel auf Kinder und Jugendliche abgewälzt, die dafür mit der Zufügung von Leid und Einschluss bestraft werden“, kritisierte der Experte. „Erziehung ist nur in Freiheit möglich, und darauf haben Kinder und Jugendliche ein Recht“, so Nüsken.

Ihm selbst gehen die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates daher nicht weit genug. Solange man sich nicht konsequent darauf verständige, ohne Zwang auszukommen, bleibe "die Tür immer noch einen Spalt breit offen". Studien zeigten, dass in diesem Fall die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Praxis immer noch gebeugt würden - schlicht, weil es möglich sei.

Ein Blick in die Historie half auf der Fachveranstaltung dabei, den Umgang mit Zwangsmaßnahmen besser einzuordnen. Hierzu leisteten Vanessa Schnorr, Vertreterin der Professur Sozialpädagogik der Universität Koblenz-Landau, und Traugott Jähnichen vom Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Ruhr-Universität Bochum ihren Beitrag. Letzterer skizzierte in seinem Vortrag die geschichtliche Transformation des evanglischen Erziehungsverständnisses "von Gehorsam und Disziplinierung über heilende Hilfen hin zu einer menschenrechtsbasierten Subjektorientierung".

In verschiedenen Foren kamen Wissenschaftler_innen und Experten der Kinder- und Jugendhilfe ins Gespräch, etwa über den „Schutz der Freiheits- und Persönlichkeitsrechte von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Formen der Unterbringung in Einrichtungen der Kinder und Jugendhilfe“ oder über „Intensivpädagogische Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe“. Das Abschlusspodium schließlich entwarf die Vision einer Kinder- und Jugendhilfe ohne Zwang - die bislang, so das Fazit, allerdings nur das ist: eine Vision und noch keine Realität.

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