Menu
Bild verkleinern

"Flucht und Vertreibung - früher und heute"

Um Unterschiede und Parallelen der Fluchtsituation und Vertreibung in und nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits und heute andererseits ging es am 18. Mai bei einer Veranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Landtag. Mit dabei war der Politologe Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie von der Evangelischen Hochschule RWL.

„Alles anders und doch vieles gleich“, so beschrieb Landtagsvizepräsident Oliver Keymis die beiden Situationen. Nach 1945 seien Millionen Menschen gekommen, Deutschland sei um 20 Prozent gewachsen, rief Keymis den Zuhörerinnen und Zuhörern im Plenarsaal ins Bewusstsein. Wie die Integration dieser Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen sei – wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten –, so werde sie auch in der heutigen Zeit gelingen.

Justizminister Thomas Kutschaty, Landesvorsitzender des Volksbundes NRW, betonte, es gehe längst nicht nur darum, Gräber zu pflegen, sondern um Arbeit für den Frieden innerhalb der Gesellschaft. Er begrüßte besonders die beiden Schulklassen einer Gesamtschule und eines Berufskollegs aus Düsseldorf. Alles, was den Frieden in der Gesellschaft betreffe, wie die Flüchtlingsfrage, sei deshalb auch Thema für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Der Historiker Prof. Dr. Bernd Faulenbach stellte die Punkte heraus, an denen sich die damalige Ankunft der Vertriebenen in Deutschland von der Ankunft der Flüchtlinge derzeit unterschieden: deutsche Staatsangehörigkeit, dieselbe Sprache, Ankunft in einem zerstörten Land, die Flucht als Ergebnis eines einzelnen Krieges. Heute sei die Situation komplexer, verwies er auf heterogene Motive, unterschiedliche Konflikte, verschiedene Sprachen und kulturelle Hintergründe. Dafür gebe es aber beachtlichen Wohlstand im Zielland Deutschland. 9,4 Millionen Menschen integriert zu haben, sei eine der größten Leistungen der Nachkriegsgeschichte. Faulenbachs Fazit: Integration brauche Zeit. Diesmal werde es vermutlich länger dauern. „Wir brauchen Geduld für den Prozess“, erklärte er.

„Flüchtlinge gehören offenbar systematisch zur Weltordnung dazu“, sagte der Politologe Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie von der Evangelischen Hochschule RWL. Er betrachtete Flüchtlinge als unvermeidliche ökonomische, politische und militärische Opfer einer Dominanz der Industriestaaten gegenüber Entwicklungsländern.

Unter der Überschrift "`Wir schaffen das´- Was eigentlich?" stellte Schiffer-Nasserie heraus, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Helferland, sondern ein Verursacher-Land sei. "Die deutsche Politik und die deutschen Unternehmen produzieren Flüchtlinge!", betonte er. "Und bei der Abwehr des unerwünschten, aber unvermeidlichen Elends nehmen sie weitere Leichen in Kauf."

Überdies diene die neue deutsche Flüchtlingspolitik im Zeichen der "Flüchtlingskrise" nicht den Flüchtlingen, sondern einer "Weltelendsverwaltung" im Interesse deutscher Hegemonie in Europa und der Welt. Dies sei der brutale Kern von "Wir schaffen das!".

"Flucht und Vertreibung - damals und heute" seien daher kein Grund zum Feiern oder auch nur zur Beruhigung - erst recht kein Grund, sich damit abzufinden, dass eine global erfolgreiche Nation wie Deutschland "auch in Zukunft" mit Flüchtlingen rechne, weil sie sie mit produziert.

Schiffer-Nasserie: "Damals wie heute sind die Flüchtenden nämlich das Material und die Opfer der geostrategischen und ökonomischen Konkurrenz ihrer Staaten um Weltmacht und Weltmarkt." Sie würden vertrieben, eingesperrt, aufgefischt, durchsortiert und dann - je nach wirtschaftlichem und politischen Bedarf - abgewehrt oder eingebaut. Im letzteren Fall seien dann u.a. auch Wissenschaftler und Kirchenleute ("auf deren Kritik an Krieg, Verarmung und Wirtschaftspolitik die Offiziellen in der Regel pfeifen") einmal gefragt, um den Entscheidungen der Macht den Segen der Vernunft und der Nächstenliebe zu geben. "Und beim nächsten Krieg spielen ihre Erwägungen, ihre Erkenntnisse und Einsprüche dann schon wieder keine Rolle mehr."

In der Veranstaltung kamen auch Zeitzeugen zu Wort. Beide waren 13 Jahre alt, als sie flohen – der eine vor 70 Jahren aus Stettin, der andere vor drei Jahren aus Syrien.

In der Wandelhalle des Landtags ist noch bis einschließlich Dienstag, 24. Mai 2016, 11 bis 17 Uhr die Ausstellung „geflohen, vertrieben – angekommen!?“ zu sehen, die Aspekte der Gewaltmigration im 20. und 21. Jahrhundert zeigt. Wer sie besuchen möchte, wird um vorherige Anmeldung gebeten unter Tel. 0211 884-2129 oder per E-Mail an veranstaltungen@landtag.nrw.de.

Quelle: Landtag NRW/Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie

Diskutierten (v.l.): Prof. Dr. Eckart Stratenschulte, Landtagsvizepräsident Oliver Keymis, Justizminister und VDK-Landesvorsitzender Thomas Kutschaty, Prof. Dr. Bernd Faulenbach sowie Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie. Foto: Wilfried Meyer/Landtag NRW

Zurück