Anhörung zum Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention
Wenn sich am Sonntag in aller Frühe um 7.15 Uhr 15 Student_innen am Bochumer Hauptbahnhof einfinden, muss etwas Besonderes anstehen. Und tatsächlich, unter der Leitung von Prof. Dr. Theresia Degener und Franziska Witzmann (M.A.) fuhren wir vom 27. bis 31. August 2023 nach Genf, um bei den Vereinten Nationen der Anhörung zum Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN-BRK (UN Behindertenrechtskonvention) beizuwohnen.
Alle Student_innen hatten vorab Prof. Dr. Degeners Vorlesung zur Behindertenrechtskonvention besucht und sich dort bereits intensiv mit den Inhalten der Konvention befasst. In Planspielen schlüpften Student_innen in die Rolle von Mitgliedern des UN-Fachausschusses für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Vertreter_innen der Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte und Vertreter*innen der Bundesregierung und erlebten so eine tiefergehende Auseinandersetzung. Da die letzte Anhörung bereits 2015 stattfand, gab es im Rahmen des Seminars immer wieder angeregte Diskussionen darüber, wie sich die Situation seitdem entwickelt hat. Entsprechend aufgeregt und gespannt waren wir alle auf die zweite Staatenprüfung Deutschlands.
Prof. Dr. Degener betont: "Was sollten die Studis lernen? Warum diese Exkursion?"
"Die Rechte behinderter Menschen und das System der Vereinten Nationen sind Teil der Ausbildung unserer Studierenden. Recht wird ja gern als trocken, abstrakt und anstrengend empfunden. Dabei stimmt das nur bedingt. Recht ist sehr lebendig und betrifft das Leben von Menschen unmittelbar. Und das zu erfahren, dafür ist der Genf der richtige Ort. Die Studierende können miterleben, dass hinter all den Strukturen und Verfahren echte Menschen, deren Erfahrungen und Interessen stehen. Sie erfahren unmittelbar, wie es um die Machtverhältnisse steht. Das kriegt man in der Lehre nur schwer vermittelt."
In Genf hatten wir bereits vor der Anhörung Deutschlands die Möglichkeit, mit Jürgen Dusel über seine Arbeit als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung zu sprechen (siehe Foto). Jorge Araya, der Leiter des Sekretariats des UN-Fachausschusses, gab uns spannende Einblicke in die Arbeit und Aufgaben des Sekretariats und der internationalen Zusammenarbeit im Kontext der Vereinten Nationen.
Gespannt verfolgten wir schließlich die über zwei Tage andauernde Anhörung Deutschlands: Neben dem Bericht der Bundesregierung hörten wir auch kritische Stellungnahmen der Monitoringstelle sowie kritische Nachfragen der Ausschussmitglieder, die sich zur Vorbereitung der Anhörung nicht nur mit dem Staatenbericht und dem Parallelbericht beschäftigt hatten, sondern auch mit zivilgesellschaftlichen Vertreter_innen in engem Austausch standen. Eindrücklich wurde ein konstruktiver Dialog über Themen wie Partizipation in der Gesellschaft, Zugang zu Rechts- und Gesundheitssystem, Bildung, System der Werkstätten, Schutz vor Zwangsbehandlung und viele weitere zentrale Themen der UN-BRK geführt. Auch die besondere Gefährdung und Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderung wurde immer wieder hervorgehoben.
Einen besonderen Moment erlebten wir am zweiten Sitzungstag: Prof. Dr. Degener, die an der Entstehung der UN-BRK beteiligt und außerdem mehrere Jahre als Mitglied des Ausschusses sowie zeitweise dessen Vorsitzende tätig war, wurde unter Applaus von „Madam Chair“, der Vorsitzenden des Ausschusses, vor dem Plenum begrüßt und ihr kontinuierlicher Einsatz in klaren Worten gewürdigt. Bei der Gelegenheit wurden auch wir Studierenden aus Bochum als Gäste erwähnt, was sehr aufregend war.
Nach der Anhörung erhielten die Student_innen durch Juan Ignacio Pérez Bello von der International Disability Alliance Einblicke in die Arbeit des Dachverbands der Behindertenorganisationen weltweit. Außerdem führten wir einen reflektierenden Dialog mit den Vertreter_innen des Deutschen Instituts für Menschenrechte. An dieser Stelle wurde nochmal besonders deutlich, dass Heil- und Inklusionspädagogik als Menschenrechtsprofession verstanden werden kann und sollte.
"Warum ist es für HP/IP-ler_innen wichtig, sich mit Menschenrechten zu beschäftigen"
" Heilpädagog_innen arbeiten für Menschen, denen traditionell Menschenrechte abgesprochen wurden und werden. Behinderte Menschen wurden und werden teilweise immer noch als Objekte von Wohlfahrt und Fürsorge wahrgenommen, die keinerlei Anspruch auf Selbstbestimmung und Schutz vor Gewalt haben. Studierende der Heilpädagogik müssen daher erkennen und verstehen, dass Nicht-Behinderung keine Voraussetzung für den Genuss von Menschenrechten ist und dass dieser Perspektivwechsel - den wir auch als das menschenrechtliche Modell von Behinderung bezeichnen - enorme Auswirkungen auf ihre Arbeit hat. Es macht schließlich einen Unterschied, ob ich ein berufliches Selbstverständnis entwickele, nach dem ich die alleinige Expertin bin und weiß, was gut für andere ist. Oder ob ich mich als Unterstützerin verstehe, die mit Fachwissen eine andere Person dabei unterstützt, deren Wünsche und Bedürfnisse zu realisieren. Und nichts Anderes." sagt Franziska Witzmann.
Parallel zur Anhörung Deutschlands vor dem UN-Ausschuss fand vor dem UN-Gelände auf dem Place de Nations ein Protestcamp statt, organisiert von Eltern aus Deutschland, die gemeinsam mit ihren Kindern für das Recht auf inklusive Bildung protestierten und auf die nach wie vor mangelhafte Umsetzung der UN-BRK im Bildungssektor aufmerksam machten. Tatkräftige Unterstützung erhielten sie dabei von der Initiative all in, von der wir spontan zu einem Kennenlernen und Austausch zur inklusiven Bildung eingeladen wurden. Unter dem Motto „all in - weil Inklusion ein Menschenrecht ist“ setzen sich Absolvent*innen der Sonderpädagogik für Inklusive Bildung als Menschenrecht ein.
Trotz des straffen Programms kam auch die Freizeit nicht zu kurz: eine Führung durch den Palast der Nationen, Shopping, Besuche von Altstadt, Museen und Denkmälern, chillen am Strand des Genfer Sees, Spaziergänge an der Seepromenade und vieles mehr - in kleinen Gruppen wussten die Student*innen ihre freie Zeit gut zu nutzen!
Abschließend bleibt die Gewissheit, dass trotz vieler Maßnahmen noch viel für die Umsetzung der UN-BRK und die Inklusion in Deutschland getan werden muss. Sich dafür einzusetzen, ist in allen Lebensbereichen und auf den verschiedensten Ebenen erforderlich. Unser Studium an der EvH RWL bietet die einzigartige Möglichkeit, nicht nur in den „klassischen“ pädagogischen Bereichen, sondern auch auf menschenrechtlicher Ebene daran zu arbeiten, Inklusion zur Normalität werden zu lassen.
“Genf ist immer eine Reise wert, war aber mit der Einladung von Prof. Dr. Degener und unter der Organisation von Frau Witzmann eine besonders prägende Erfahrung, an die wir noch oft zurückdenken werden.” Nina Baumann und Christina Ehrhardt