Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann erinnert sich noch gut an den 24. Februar 2022 - den Tag des Angriffs auf die Ukraine. Und an die Fragen, die dadurch in Bezug auf die EvH-Russland-Kooperationen aufkamen. So waren Exkursionen nach Russland geplant gewesen, jedoch einige Tage vor Kriegsausbruch abgesagt worden. "Auch wollten russische Studierende über das International Study Programme zu uns kommen," berichtete die Hochschul-Rektorin jetzt während eines diesbezüglichen Hochschul-Gesprächs in der Aula. In ihrer offiziellen Stellungnahme hatte die Hochschule den Angriffskrieg gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilt.
Die Zusammenarbeit mit den russischen Hochschulen in Wologda und Kursk gehört zu den ältesten der EvH RWL. Sie besteht zum Teil seit über 25 Jahren. In dieser Zeit haben zahlreiche gemeinsame Tagungen, Projekte, Exkursionen und Studierendenaustausche stattgefunden. Tatsächlich ruhen die Kontakte aber weitestgehend seit jenem 24. Februar. In der offiziellen Stellungnahme der Hochschule hieß es: Es bleibe eine Gratwanderung, die „Balance zwischen einem Offenhalten von Verbindungen und einem klaren politischen Signal, auch im Bereich der Wissenschaft“ zu halten.
Um die EvH-Kooperationen zu reflektieren und gemeinsam zu überlegen, unter welchen Voraussetzungen und Möglichkeiten sie in Zukunft stattfinden könnten, kamen jetzt Studierende, Lehrende und Mitarbeitende in der Aula zusammen. Sigrid Graumann berichtete in ihren Eingangsworten, wieviele berührende Rückmeldungen es auf die EvH-Stellungnahme gegeben habe. Auch habe man sich in jenen ersten Tagen des Kriegs entschieden, die russischen ISP-Gast-Studierenden nicht auszuladen. "Doch dann durften sie gar nicht ausreisen."
Als Diskussionsgrundlage schilderten Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster und Prof. Dr. Jürgen Boeckh die Anfänge der Kooperationen mit den russischen Partnerhochschulen. Beide hatten die Kontakte seinerzeit mit aufgebaut: ersterer als damaliger Rektor der EFH RWL und letzterer noch als Student, später als Referent des Rektorats. Boeckh ist heute Professor für Sozialpolitik an der Ostfalia, Hochschule für angewandte Wissenschaften, in Wolfenbüttel. Er verlieh seiner Sorge Ausdruck, "dass wir jetzt wieder in die ,Zeit davor´ katapultiert werden, in der uns alles Russische zunehmend fremd wird". So sei er dankbar für diesen Abend des Austausches und der Aussprache; etwas, was an seiner Heimat-Hochschule derzeit gar nicht stattfinde.
Moderator des Gesprächs war Prof. Dr. Dirk Nüsken, der seit einigen Jahren mit der Universität Wologda kooperiert und gemeinsame Teamteachings anbietet. "Neben der Pandemie ist der Angriffskrieg sicher das dominierende Thema in den Medien - und die Hochschule ist mit ihren jahrzehntelangen Kooperationen mittendrin", sagte er gleich zu Anfang. Mittlerweile aber sei es schon so, dass er nicht mehr jede Meldung aus dem Kriegsgebiet checke.
Auch Anna Buterus, EvH-Studentin der Sozialen Arbeit, nahm auf dem Podium Platz: Sie musste ihr Auslandssemester in Kursk wenige Tage nach Kriegsausbruch abbrechen. Buterus als russische Muttersprachlerin hatte die EvH RWL als ihren Studienort explizit danach ausgesucht, dass über die Hochschul-Kooperationen Auslandsaufenthalte in Russland angeboten werden.
Sie schilderte ihre Eindrücke - etwa ihre Unsicherheit Ende Februar ("Soll ich bleiben, oder nachhause fliegen angesichts der Befürchtung, dass vielleicht ein dritter Weltkrieg ausbricht?"). Umriss ihre Gespräche mit russischen Studierenden vor Ort - darüber, wie sie die Informationspolitik ihres Landes zur politischen Lage selbst wahrnehmen. Und berichtete von ihren Schwierigkeiten, letztendlich doch noch einen erschwinglichen Rückflug buchen zu können, nachdem Russland und die EU ihre Flugräume bereits gesperrt hatten.
Sie gab Dirk Nüsken recht, dass auch sie heute nicht mehr jede Nachricht aus der Ukraine verfolge. Nun, da die Bedohung nicht mehr so präsent sei, frage sie sich, ob sie nicht doch hätte bleiben sollen. Sie sei da hin- und hergerissen, glaube aber, dass sie irgendwann wieder nach Russland wolle, auch wenn ihr klar sei, dass das im Moment einfach nicht möglich ist.
Nach gut eineinhalb Stunden Diskussion, während der auch Studierende und Lehrende aus der Zuhörendenschaft Fragen an die Referent_innen richten konnten, stellte Ernst-Ulrich Huster Folgendes fest: "Ich habe nichts dagegen, in ein Land zu fahren, das eine andere Position hat als der Westen. Ich möchte aber mit meinen Gesprächs- und Ansprechpartner_innen offen sprechen können, ohne andere in Gefahr zu bringen."