Ob nach einem Unfall oder aufgrund einer schweren Erkrankung: Die Zeit auf einer Intensivstation ist eine Krise. Nicht nur für Patienten, sondern auch für Angehörige. Letztere haben Ängste, Sorgen und medizinische Fragen – die häufig nicht oder nur unzureichend beantwortet werden. Denn: Auf den meisten Intensivstationen an deutschen Krankenhäusern gibt es kaum jemanden, der sich für sie verantwortlich fühlt.
Angehörige - ein Störfaktor?
„Sowohl bei Ärzten, als auch beim Pflegepersonal: Angehörige gelten eher als Störfaktor“, moniert EvH-Studentin Katharina Biernath (Foto, r.), die an einem großen Klinikum im Ruhrgebiet als Fachkinderkrankenschwester arbeitet. Auf eine Schwester/einen Pfleger kämen bis zu vier Patienten. Da gelte es, Maschinen und Medikamentation zu überwachen, den Telefondienst auf der Station zu versehen. Für tröstende, mitunter aufreibende Gespräche fehlten schlicht Zeit, Kraft und Motivation.
Um Angehörigen aus dem Weg zu gehen, greife Klinikpersonal gar auf Ausweich-Strategien zurück. Flüchte sich in Materialkammern und Besprechungszimmer, verweise auf das Ende der Besuchszeit. Biernath: „Auf Intensivstationen geht es erstmal darum, das Überleben zu sichern – und weniger darum, Trost zu spenden.“ Patienten-Familien fühlten sich da oft allein gelassen.
Aufenthaltsräume und Wartebereiche fehlen
Die EvH-Studierende der Pflegewissenschaft muss es wissen. Führt sie doch derzeit auf einer Intensivstation im Ruhrgebiet Angehörigen-Befragungen im Rahmen eines EvH-Praxisprojekts durch. Als Grundlage dienen ihr die Erkenntnisse ihrer Kommilitonin Jennifer Brendt (Foto, l.), die dort zwischen September 2016 und Mai 2017 Interviews mit Mitarbeitenden führte.
Die Gesundheits- und Krankenpflegerin auf Intensivstationen, die überdies seit Sommer 2017 ihren Bachelor in der Tasche hat, hat seither Verbesserungsempfehlungen formuliert und ihre Ergebnisse auf dem Hochschultag der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft vorgestellt. „Zunächst einmal müssen organisatorische und bauliche Strukturen angepasst werden“, stellt die 27-Jährige klar. Sprich, es gelte, offene und flexible Besuchszeiten anzubieten sowie Aufenthaltsräume und Wartebereiche zu schaffen.
Angehörigen-Telefonate könnten Trost spenden
Darüber hinaus müsse sich die Haltung von einigen Ärzten und Pflegenden ändern und - etwa im Rahmen von Fortbildungen - eine neue Sensibilität für die Situation der Angehörigen geschaffen werden. Auch, wenn sich viele Mitarbeitende gut um Angehörige kümmerten, bestehe häufig noch Unwissenheit über deren Bedürfnisse und Prioritäten. Ein essentielles Bedürfnis etwa sei es, Informationen über den Krankheitsverlauf zu erhalten. "Pflegende in Kliniken der Schweiz führen tägliche Telefonate, in denen Patienten-Familien Fragen stellen können und Antworten bekommen - ein gutes Vorbild", gibt Brendt ein Beispiel.
Ein weiteres wesentliches Problem: Eine Stunde Trost sei formal nicht abrechenbar, und die eigentliche Arbeit bleibe liegen. Wenn sich die Mitarbeitenden gern ausgiebig um die Angehörigen kümmern wollten, fehle es dafür doch häufig an Personal. Darüber hinaus stumpften Pflegende nach Jahren im Beruf ab, blendeten Emotionales aus. Dennoch müssten sie einsehen, dass es offiziell in ihren Verantwortungsbereich fällt, Angehörige zu betreuen und ihnen zu helfen, mit der Krankheit des Patienten umzugehen. „So jedenfalls steht es im Krankenpflegegesetz“, betont auch Katharina Biernath.
Geschwister unterstützen Genesungsprozess
Im Gegensatz zur Erwachsenenpflege sieht die Fachkinderkrankenschwester in ihrem Bereich aber Licht am Horizont. Während Kinder unter 12 Jahren auf herkömmlichen Intensivstationen nicht zugelassen seien, dürften Geschwisterkinder ihre kranken Schwestern und Brüder durchaus auf der Intensivstation besuchen. „Es gibt Studien, die zeigen, dass verbaler und körperlicher Kontakt den Genesungsprozess bei Kindern unterstützt“, so Biernath.
Das Vorurteil vieler Ärzte und Pflegenden, Geschwister könnten laut sein oder Infektionen einschleppen, bewahrheite sich so nicht. „Die halten sich an Desinfektions- und Benimmregeln“, weiß die 33-Jährige aus Erfahrung. „In 90 Prozent der Fälle läuft das ganz entspannt.“ Auch die Eltern der kleinen Patienten gäben gute Rückmeldung: Dürften sie ihre anderen Kinder mitbringen, klappe es besser mit der Organisation.
Angehörige trauen sich nicht zu fragen
Darüber hinaus sei die Bindung unter Geschwistern einzigartig und mache es sinnvoll, sie mit einzubeziehen. „Gerade wenn ein Kind vier bis fünf Wochen auf der Intensivstation liegt, müssen Schwestern und Brüder Kontakt halten,“ ist Katharina Biernath überzeugt. Je kleiner Geschwisterkinder seien, desto geschmeidiger gingen sie um mit der Situation. „Die sehen das von der spielerischen Seite.“
Auch die Befürchtung vieler Pflegekräfte, Besucher seien nervig und forderten viel, sehen die EvH-Studierenden in ihrem Berufsalltag nicht bestätigt. „Im Gegenteil: Die meisten halten sich zurück, sitzen mit ihren Ängsten allein am Bett des Patienten und trauen sich nicht zu fragen.“
Priorität hat ehrliche Diagnose
Dabei sei die Prioritätenliste von Angehörigen, die sich so auch in der Fachliteratur findet, durchaus nachvollziehbar. „Am wichtigsten ist ihnen, dass der Patient optimal versorgt ist“, so Brendt. Auf den Folgeplätzen stehe die Hoffnung, dass sich das Personal gut um ihn kümmert und man selbst, als Angehöriger, ehrliche Prognosen erhält.
Foto: Katrin Gnauert; Text: Julia Gottschick