"Gemeinwirtschaft als Gewinnwirtschaft? Widersprüche der Kommerzialisierung im Sozial- und Gesundheitswesen": Prof. Dr. Monika Burmester und Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt referierten jetzt zum Thema.
Leistungsträger im Sozialwesen bewegen sich in einem widersprüchlichen System: Während sie wie ein normales am Markt agierendes Unternehmen konkurrenzfähige Produkte an Abnehmer adressieren (sollen), sind sie auf die durch Knappheit an Finanzmitteln gekennzeichneten Kalkulationen öffentlicher Kassen verwiesen.
Dieser Widerspruch entfaltet eine innere Dynamik, die das Handeln in der Gemeinwirtschaft prägt. Dort lassen sich (Lohn-)Kosten nicht umstandslos nach Maßgabe wirtschaftlicher Kalkulation beliebig variieren, die Produktion kann nicht beliebig ausgedehnt werden, und in Bezug auf ihre so genannte Wertschöpfung sind die Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens auf sozialrechtliche Normen verwiesen, die sich sozialpolitischen und nicht ökonomischen Kalkulationen verdanken.
Prof. Dr. Monika Burmester beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Marktwirtschaft und Gemeinwirtschaft. Einerseits, so die Grundthese, ist Marktwirtschaft ohne Gemeinwirtschaft nicht denkbar, und auch sozialpolitisch überlässt der Staat die Gesundheitsversorgung nicht allein marktwirtschaftlichen Logiken. Andererseits ist Gesundheit heutzutage auch ein Geschäft und Gemeinwirtschaft ein keineswegs unbedeutender Wirtschaftsfaktor. Was heißt dies für Pflege, Heilkunst und professionelles Selbstverständnis?
Vom Bäckerhandwerk bis zum Ingenieurswesen, alle sind in den unterschiedlichen Produktionsbereichen ökonomischen Zwängen unterworfen, die die jeweilige Fachlichkeit einschränken. Im Gesundheits- und Sozialwesen ist diese Bedingung besonders gravierend. Schließlich geht es hier um soziale und gesundheitsbezogene Dienstleistungen und nicht darum, mit Produkten auf Märkten hohe Gewinne zu erzielen. Dennoch sollen Krankenhäuser heute wirtschaftlich erfolgreich sein.
Das hat spürbare Auswirkungen für Ärzt_innen und Patient_innen: Mit Einführung der Fallpauschalen (DRG) werden Patient_innen schon bei der Aufnahme in wirtschaftliche Verlustposten oder lukrative Erlöserbringer eingeteilt. Finanzielle Anreize sorgen für kurze Verweildauern, besonders in der personalintensiven Pflege wird die Aufwandsminimierung belohnt und der Auftrag ärztlicher Heilkunst permanent untergraben.
Im Bereich der Gemeinwirtschaft aber soll und muss eine andere Logik verfolgt werden. Staatliche Eingriffe müssen dafür sorgen, dass genügend einsatzfähige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Dazu braucht es Schulen und ein öffentliches Gesundheitswesen. Die finanziellen Mittel dafür werden dem marktwirtschaftlichen Sektor entzogen – über Steuern und Sozialversicherungsabgaben.
Die Gemeinwirtschaft ist also einerseits Voraussetzung für die Marktwirtschaft, andererseits bedarf es einer prosperierenden Marktwirtschaft, damit diese gemeinwirtschaftlichen Aufgaben finanziert werden können. Derzeit dominiert die Auffassung, dass dem gewerblichen Sektor nicht zu viel abgezogen werden darf, um Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten. Die finanziellen Mittel sind begrenzt, aber wo die Belastungsgrenze liegt, ist unbestimmt, variiert international – und ist eine Frage machtpolitischer Kräfteverhältnisse.
Die Gemeinwirtschaft kostet aber nicht nur. Sie ist selbst Wirtschaftsfaktor. Die Argumentation von Fachleuten sieht aktuell und teilweise so aus: Über Sozialabgaben der Beschäftigen in der Sozialwirtschaft fließt Geld an die öffentliche Hand zurück. Über die Löhne der dort beschäftigten wird Kaufkraft erzeugt, die in anderen Bereichen zu steigender Nachfrage führt. Ausgaben von 100 Prozent stünden Rückflüsse von rund 74 Prozent gegenüber.
Diese Idee liegt den Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) zugrunde. Sozialausgaben werden in dieser Logik nicht mehr als konsumtive Ausgaben, sondern als Investitionen interpretiert. Mit dieser Betrachtungsweise aber wird der staatliche Bedarfsdeckungsauftrag relativiert und davon abhängig gemacht, ob es einen „Return“ gibt und wie hoch er ist. Wird nur ausgegeben, wenn es sich rechnet? Das entspricht weder der Auffassung der Referentin, noch der sozialstaatlichen Logik.
Die Diskussionen darum, was denn die angemessene Höhe für die Sozial- und Gesundheitsausgaben ist, unterliegen einer ständigen Debatte. Wie hoch sollen im Gesundheitswesen die Leistungsansprüche sein? Gibt es andere Varianten der Finanzierung? Gesetzlich ist dies am Bedarf orientiert und nicht daran, was man sich privat kaufen kann. In der Gesundheitsökonomie wird diese Rahmensetzung als „Bedarfsdefinition der Rationierung“ bezeichnet.
Eine Rationierung über den Preis soll es im öffentlichen Gesundheitswesen nicht geben. Es gibt aber eine „implizite“ oder „verdeckte Rationierung“, die beispielsweise über knappe Personalbesetzung Rationierungsentscheidungen an pflegendes und ärztliches Personal abgibt. Dem Markt überlässt der Sozialstaat die gesundheitliche Versorgung nicht. Wer in welcher Form Gesundheitsleistungen erbringen darf, ist gesetzlich geregelt.
Die Versorgung wird hierzulande über Versicherungen organisiert – gesetzliche wie private, was eine bundesdeutsche Besonderheit ist. Es gibt eine allgemeine Versicherungspflicht, wenngleich nicht alle Zugang zur privaten und auch nicht zur gesetzlichen Versicherung haben. Die kassenärztliche Vereinigung stellt die ambulante ärztliche Versorgung sicher. Es gibt also eine ganze Menge Stellschrauben, die staatlich verändert werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist.
Dass der Staat die allgemeine Gesundheitsversorgung als gewinnträchtige Geschäftssphäre organisiert hat, damit beschäftigte sich im Schwerpunkt Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt. Die Gewinne und Einkünfte, die Pharmaindustrie, Ärzt_innen, Krankenhäuser und andere Gesundheitsdienstleister erzielen, basieren weitgehend auf ihrer sozialstaatlich hergestellten Handlungsfähigkeit.
Der Sozialstaat belässt es nicht dabei, die notwendigen Voraussetzungen für ein funktionierendes Gesundheitssystem zu schaffen. Er richtet dieses zugleich als wachstumsorientierten Wirtschaftssektor ein und hat die Stellschrauben auf Förderung der Kommerzialisierung gestellt.
Im ambulanten Bereich arbeitet die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte als freiberufliche Unternehmer_innen. Ihre Vergütung wird über Einzelleistungen abgerechnet, die in einer Honorarordnung festgelegt sind. Damit werden ökonomische Anreize gesetzt, Leistungen auch über das medizinisch Notwendige hinaus auszuweiten.
Das ist eines der Kardinalprobleme in der Entwicklung des sozialen Dienstleistungswesens. Budgetierungen sollen diesen Handlungsraum wieder beschränken, was wiederum über die Vermarktung von individuellen Gesundheitsleistungen (IgeL) außerhalb von Budgets kompensiert wird. Die Bevorzugung von Privatpatienten und Medizinische Versorgungszentren, die auch von Kapitalgesellschaften gegründet werden können, sind ebenfalls Motor für das Geschäftsmodell.
In der stationären Versorgung bietet das DRG-System gewinnorientierte Anreize, u.a. zur Mengenexpansion und Verkürzung der Verweildauer der Patient_innen. All das ließ nicht – wie staatlicherseits erhofft – die Gesundheitsausgaben sinken. Sie sind nach Daten des Bundesgesundheitsamtes um 50 Prozent gestiegen – auf über 90 Mrd. Euro.
Krankenhäuser stehen im Wettbewerb. Mit den DRGs sollen eigentlich nur die Personal- und Sachkosten der Krankenhäuser gedeckt werden, während die Investitionskosten von den Bundesländern getragen sind. Dieser Pflicht kommen die Bundesländer nicht hinreichend nach. Das treibt die Krankenhäuser zur Querfinanzierung von Baukosten und Ausgaben für teure medizinische Gerätschaften an. Das ist politisch gewollt und induziert.
Gestiegen ist auch der Anteil privatgewerblicher Krankenhäuser gegenüber den öffentlichen und freigemeinnützigen. Der Gesundheitsmarkt ist also attraktiv für privates Kapital, sofern private Renditen erwartet werden. Private Investoren haben besseren Zugang zu Kapitalgebern und können so politisch den erzeugten Investitionsstau besser kompensieren.
Diese Entwicklungen lassen sich nicht eins zu eins auf die Altenpflege, die Behindertenhilfe oder die Jugendhilfe übertragen. Es gibt aber Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung. Das zeigt sich u.a. in den ständigen Reformen der Pflegeversicherung seit Mitte der 1990er Jahre. Die sozialpolitische Begründung im Rahmen der Agenda 2010: Sozialstaatsreformen sind Standortpolitik, um Deutschland für Investoren attraktiv zu machen. Das Bestreben, Unkosten für Unternehmen zu senken, wurde auf den gesamten sozialen Dienstleistungssektor ausgeweitet.
Steuermittel und Sozialversicherungsbeiträge sind gedeckelt, und so wurde die Knappheit an finanziellen Mitteln zu einem Dauerphänomen des Handelns in der Sozialwirtschaft. Die Folgen sind weitreichend: Private Anbieter sollen Leistungsprozesse „effektiver“ und „effizienter“ machen – durch rigorosen Preisdruck. Das kurbelt die Suche nach neuen Möglichkeiten der Gewinnerzielung auch in diesem Sektor an, um sich wie die Krankenhäuser gegen die Wechselfälle der sozialpolitischen Konjunkturen zu wappnen.
Hier setzt das „Sozialmanagement“ und „Personalmanagement“ an. Achtzig Prozent der Ausgaben sind Personalkosten. Mittlerweile ist der Personaleinsatz gekennzeichnet durch befristete Stellen, Teilzeitarbeit und Überarbeit. Es gibt 1400 verschiedene Tarifverträge, und nur elf Prozent der Beschäftigten sind überhaupt im TVöD organisiert.
So wurde in der Pflege ein Fachkräftemangel produziert, der nun wieder Anlass für sozialstaatliche Korrekturen ist. Auch hier ist das Hin und Her zwischen der Bedarfsdeckungsnotwendigkeit und der ökonomischen Logik offensichtlich, das den Staat wieder herausfordert, neue Maßnahmen zu entwickeln.
Unter dem Diktat ökonomischer Selbstbehauptung verändern sich gemeinnützige Verbände und Leistungsanbieter. Sie werden zunehmend Auftragnehmer für den immer stärker durchkonjugierten Steuerungsauftrag der öffentlichen Arbeitgeber. Ein Beispiel ist das neue Bundesteilhabegesetz, in dem die Leistungsanbieter völlig aus der Hilfeplanung ausgeschlossen sind. Mit dem Problem, trotz Zwang zur Kostensenkung und Gewinnerzielung, nicht in Konflikt mit dem Versorgungsauftrag zu kommen, werden immer neue Konzepte erfunden.
Aktuell ist das bei den ergebnisorientierten Modellen zu besichtigen: Steuerung unter dem Begriff „Pay for Performance“ ist allein auf Ergebnisqualität ausgerichtet. Was zählt, ist die Wirkung im Sinne der sozialpolitisch vorgegebenen Ziele. Damit ist eine grundsätzliche Verengung und Umdeutung der Zielsetzung sozialer Interventionen verbunden. Traditionell gab es ein Spannungsverhältnis von subjektiven Bedarfen bzw. Interessen derjenigen, die Hilfe in Anspruch nehmen und den Anforderungen des Hilfesystems, die nicht deckungsgleich sind.
Beispielsweise hieße strikte Ergebnisorientierung bei Jugendarbeitslosigkeit, die Jugendlichen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, was mit deren Hilfebedarf nicht übereinstimmen muss und im Gegensatz zu einer angestrebten Prozessqualität stehen kann. Diese Prozessorientierung als eigene Qualität sozialer Interventionen ist ebenso erledigt wie der Professionalisierungsdiskurs in der sozialen Arbeit. Die Interessen der Klienten spielen in dieser Wirkungsmessung keine Rolle mehr.
Was zählt, sind die fiskalischen Interessen der Kostenträger und der Investoren. Auch, wenn angestrebt ist, den Sozial- und Gesundheitsbereich wie eine „normale kapitalistische Anlagesphäre“ zu sehen - seine Realisierung bleibt widersprüchlich und kann nicht im Interesse des Sozialstaats und dessen Versorgungsauftrag liegen. Und auch nicht im Interesse der von diesen Dienstleistungen abhängigen Menschen.
Sie zahlen von ihren Einkommen für notwendige Versorgungsleistungen, deren Erhalt immer weniger selbstverständlich ist und bei deren Qualität deutlich wird, dass die sozialen Gegensätze der Gesellschaft auch in der Gemeinwirtschaft fortwirken und dort ihre spezifische Ausprägung erfahren.
Die nachfolgende Diskussion konzentrierte sich vor allem darauf, ob sich frei gemeinnützige und privatgewerbliche Leistungsanbieter noch in ihren Gestaltungsmöglichkeiten unterscheiden. Norbert Wohlfahrt sah wenig Anlass, dass die gemeinnützigen Organisationen und Verbände noch Solidarität stiften und die Interessen der Klient_innen verfolgen können.
Was diese Entwicklung für eine kritische Soziale Arbeit bedeutet, war ebenfalls im Gespräch. Norbert Wohlfahrt favorisierte die Analyse der politökonomischen Bedingungen sozialer Arbeit, statt über normative Konzepte wie Menschenrechte und Sozialraumorientierung zu diskutieren, die negieren würden, was in der harten Praxis sozialer Arbeit gegenwärtig passiert. Erst die Kenntnis über die gegebenen Funktionalitäten würde Handlungsspielräume im Interesse der Klient_innen eröffnen.
Foto: Daniel Kessen/Text: Erika Feyerabend