Ostern in Zeiten von Pandemie
Christen auf der ganzen Welt feiern das Osterfest. Die Pandemie machte 2020 bewusst, wie schnell der Glaube an moralische Strebsamkeit, an guten Willen und Vernunft angesichts der Wechselfälle des Lebens an seine Grenzen kommt.
Es gibt immer vielfältige ursächliche Zusammenhänge, die sich in Statistiken abbilden lassen. Das macht aber nicht immer Sinn. Oder besser gesagt: Sinn macht es zwar immer. Aber vom Menschen ist zu verantworten, welche sinnstiftende Erzählung er daraus bildet und zulässt. Wenn zum Beispiel ein Tsunami zigtausend Menschen hinwegrafft, sinkt dort die Zahl der Verkehrstoten. Soll das etwas bedeuten? Wegen der Ausgangsbeschränkungen ist gerade die Luftqualität weltweit erheblich besser geworden. Letzteres wird in Print, Radio und Fernsehen durchweg als Dank- und Lobpreisgeschichte erzählt: „Dank Corona ist die Luftqualität viel besser“, „Corona hat auch sein Gutes“.
Auf der Homepage des Vatikan erschien ein Artikel, der „Bruder Virus“ als „unerwarteten Verbündeten“ begrüßte. Gott sei Dank wurde dieser Beitrag nach einem Tag entfernt. Trotzdem wird geraunt, der liebe Gott habe sich in einen zürnenden verwandelt. Hinter solchen Perversionen verbergen sich psychodynamische Mechanismen der Identifikation mit dem Aggressor („Stockholmsyndrom“), die höchst unangenehme Gefühle wie Angst, Scham und Schwäche abwehren sollen. Die Bibelgeschichten und Jesustraditionen lehren, sich diesen Phänomenen zu stellen.
In der „Aktuellen Stunde“ des WDR-Fernsehens fragte die Moderatorin die Vorsitzende des europäischen Ethikrates, ob auch „entgangenes Lebensglück“ bei den Maßnahmen gegen die Pandemie mit berücksichtigt werde. Heißt es denn nicht seit der Aufklärung „Jeder ist seines Glückes Schmied“? In einer Morgenandacht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sagte der Pfarrer, es dürfe jetzt kein Riss durchs Volk gehen, sondern es müsse vielmehr ein heilsamer Ruck erfolgen – er glaube fest daran. Man solle vernünftig sein. Ist es vernünftig an Vernunft zu appellieren?
Ein Comedian gab sich positiv und sagte in einem Radiobeitrag „ganz im Ernst“, er habe den Eindruck, dieses Virus mache uns zu besseren Menschen. Überall sei viel mehr Nettigkeit. Doch hinter der Nettigkeit lauert der Darwinismus, so wahr uns KI helfe. Der Versuch, die Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen, endet damit, sie per Digitalisierung unter die Kuratel seriöser Ordnungskräfte und Verbände zu stellen (Peter Schneider). Der Sprachwissenschaftler Stefan Wachtel zitiert seine Großmutter mit dem Satz „Es muss erst wieder ein Krieg kommen“ und ersetzt „Krieg“ durch „Seuche“...
Zwar kann man aus Fehlern lernen, aus Schaden ist man aber noch nie klug geworden. Im Gegenteil entwickelt Schaden faszinierende Kräfte, die hinter der Fassade von „think positive“ und „Tschakka, du schaffst es“ ungehindert wirken. Angst toppt Intelligenz. „Die Halbwertzeit der Erfolge selbst der intensivsten Erlebnispädagogik ist wesentlich kürzer als allgemein angenommen“ (Peter Schneider). Psychoanalytische und theologische Erkenntnisse zu seltsamen lebensfeindlichen Tendenzen, Krankheitsgewinn und Heilungswiderstand wären hier relevant, sind aber verbannt. So aufgeklärt will man dann lieber doch nicht sein.
Die Ostergeschichte kann von Sentimental Feed und Tschakka-Prosa eines „Gedankenkitsches“ (Henning Ritter), der sich „aufgeklärt“ und „humanistisch“ nennt, befreien. Sie hat Ahnung von Kontingenz und Tragik der conditio humana. Das trägt, gibt Gelassenheit, Kraft, Mut. Und Mut ist laut Kant das Wichtigste. Das Osterfest entfaltet seine Kraft nicht dadurch, dass es das Leben gegen den Tod sichert und Stärke gegen Schwäche schützt oder Allmacht gegen Ohnmacht. Sondern Ostern bedeutet, den Prozessen des Vertrautwerdens und Fremdwerdens zu trauen. Ostern heißt, in Lebensprozessen eine Beziehungskraft für wahr zu halten, die das Leben trägt.
Zum Leben gehören Glück ohne Verdienst und Verhängnis ohne Schuld. „Leben heißt verwundbar sein... Der Mensch muss zwischen lebendiger Gebrechlichkeit und Konservenbüchsenglück wählen“, sagte der Soziologe und Rechtshistoriker Eugen Rosenstock-Huessy. Ganz ähnlich hatte Wolf Biermann 1968 aus der DDR heraus von Ermutigung gesungen: „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“
Text: Prof. Dr. Bernd Beuscher