Religiöse Früherziehung gesellschaftlich verantworten
Zum Projekt „Religion als Dimension elementarer Früherziehung“
Es gibt vier Bereiche gesellschaftlich verantworteter Bildung: den vorschulischen Elementarbereich, den Primarbereich der Grundschulen, den Sekundärbereich der weiterführenden Schulen, den Tertiärbereich der Hochschulen sowie den quartären Bereich der Weiterbildungsangebote.
Das Arbeiten mit Begriffen wird erst im Primarbereich angebahnt. Aber das Leben wartet nicht bis zum zweiten Schuljahr, bis es seine Fragen stellt. Es stellt sie schon früh aus dem Munde kleiner Kinder, ohne schützende Begriffsfilter, ohne blumige Verpackungen und ohne stützende Logikmuster, mit denen wir Erwachsenen die Wechselfälle des Lebens abfedern:
„Opa, wann stirbst du?“ „Mama, warum geht die so komisch?“ „Oma, wer passt auf uns auf, wenn wir schlafen?“ „Beate, warum gibt es Kriege?“ „Klaus, warum sitzt die Frau auf der Straße mit einem Pappbecher?“ „Manno, warum kann die Sofie das haben und ich nicht?“ „Papa, muss Bella wirklich sterben?“ „Warum kann ich nicht noch aufbleiben?“ „Wann sind wir endlich da?“ „Wo war ich, bevor ich in Mamas Bauch war?“ usw.
Kinder vergleichen und beobachten unbestechlich: Es gibt immer eine und einen, die bzw. der schöner, schneller, stärker, besser ist. Jedes Kind ahnt: Es gibt Glück ohne Verdienst und Verhängnis ohne Schuld. Kinder haben Ahnung vom unvorstellbaren Glück, von unausweichlicher Schuld, von schockierender Gewalt, vom plötzlichen Tod, vom sinnlosen Leid.
So bedeutet es eine große Verantwortung, in der elementaren Bildungsarbeit professionell damit umzugehen. Denn je nachdem, wie hier reagiert wird, werden entscheidende Weichen für Lebensstrategien und Lebenshaltungen gestellt. Wer keine Ahnung von Religion hat, glaubt am Ende alles.
In diesem Sinne wurde am 26. April 2017 an der EvH in Kooperation mit der Kindergartengemeinschaft des Kirchenkreises Bochum eine Kickoff-Veranstaltung durchgeführt. Sie trug unter Anspielung auf das Reformationsjubiläumsjahr den Titel „Luther bei die Fische. Wie Luther uns Erwachsenen heute hilft, wenn Kinder nach Tod und Sterben fragen“. Rund 35 Mitarbeitende von Kindertageseinrichtungen des Kirchenkreises Bochum sowie weitere 30 Interessierte waren neben Studierenden der EvH RWL mit von der Partie, hörten zu und diskutierten in der EvH-Aula angeregt. Wie eine Kindertagesstätte in der Praxis mit einem solchen Fall umgehen kann, beschrieb Sabine Kleinkorres, Lehrkraft für besondere Aufgaben im EvH-Studiengang Elementarpädagogik. "Abschied - schwer wie ein Stein" war ein dortiges Projekt überschrieben, in dessen Zuge Kinder mit Hilfe von Steinen und über mehrere Monate hinweg lernten, mit zwei sehr konkreten Verlusten umzugehen.
„Dafür bist du noch zu klein“, „Frag mich in zwei Jahren noch einmal“: Solch ein Aufschub würde bedeuten, die wache existenzielle Intelligenz der Kinder wegdämmern zu lassen. Damit wäre Altklugheit vorprogrammiert (ein günstiger Nährboden für Fundamentalismus).
„Geh und hol dir ein Eis“, „Willst du nicht mit deinem Baukasten spielen?“: Solch ein Ab-lenken, Überspielen und Ignorieren würde bedeuten, der wachen existenziellen Intelligenz der Kinder eine Lektion zu erteilen: „So etwas fragt man nicht!“ Damit wäre verschämte religiöse Unsicherheit vorprogrammiert (ebenfalls ein günstiger Nährboden für Fundamentalismus).
Darum heißt es zum Beispiel in den „Grundsätzen zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertageseinrichtungen und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen“ des Ministeriums für Schule und Weiterbildung und des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW im Auftrag der Landesregierung (2011):
„Der Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein und Handeln im Hin-blick auf sinnstiftende Lebensdeutungen ist von grundlegender Bedeutung ... Religiöse Bildung und ethische Orientierung sind eine wichtige, aber auch sensible Aufgabe für die Fach- und Lehrkräfte ... Kinder sind tief bewegt von allem Lebendigen und zugleich von der Frage nach Sterben und Tod. Sie fragen nachhaltig danach, wer sie sind und sein dürfen. Die Frage nach Gott und der Schöpfung ist in diesem Sinne eine zentrale Lebensfrage. Kinder nehmen die Welt mit allen Sinnen, mit Gefühl und Verstand wahr. Kinder erleben auf besonders intensive Weise existenzielle Erfahrungen, wie Angst, Verlassenheit, Vertrauen und Geborgen-sein, Glück, Gelingen, Scheitern, Bindung, Autonomie, Mut und Hoffnung ...“
Fragemut und Lebensmut hängen also zusammen. Kinder sind Existenzialisten. Die Gesellschaft darf gerade vor den kleinen Kindern nicht kneifen, wenn das Leben Fragen stellt. Jegliche (gemäß Artikel 7 der Verfassung gesetzlich gewährte) konfessionelle Konkretisierung und Ausprägung entsprechender elementarer Bildungsarbeit bewegt sich im Kontext folgender Lernbereiche und der damit verbundenen Maximen:
1.) Motorik & Leibhaftigkeit:
Fallen und Laufen lernen (körperliche Beweglichkeit, Eroberung des physischen Raumes).
2.) Logik & Geistesgegenwart:
Fragen und Denken lernen (geistige Beweglichkeit, Beherrschung argumentativer Muster).
3.) Kontakt & Beziehungskraft:
Sprachlichen Weltumgang lernen (soziale Beweglichkeit, Eröffnung von Verbindlichkeit).
4.) Verantwortung & Lebenshaltung:
Glauben lernen (seelische Beweglichkeit, Gestaltung von Unwissbarem und Unübersichtlichem).
Bilden und Erziehen geschehen nie weltanschaulich neutral. Vielmehr bringt die Unterschlagung der weltanschaulichen Dimension in der Kindheit die Gefahr einer verdeckten Beeinflussung mit sich. Kinder brauchen Stoff, an dem sie sich abarbeiten und stark werden können. Sie brauchen Personen, die ihnen entsprechend gegenüber treten und Spiel- und Lernräume eröffnen. Das gilt auch und vor allem für die elementaren Fragen lebendiger Zerbrech-lichkeit. Eine Erziehung unter Tabuisierung existenzieller Fragen macht den Körper unsicher, die Seele arm und beleidigt den Intellekt.
Die Evangelische Hochschule will sich künftig in Kooperation mit der Kindergartengemeinschaft Bochum, der Evangelischen Kindertagesstätte Fantasien in Recklinghausen, dem Pädagogischen Institut und dem Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Evangelischen Kirche von Westfalen mit diesem Projekt der Bildungsverantwortung im vorbegrifflichen Modus der Weltbegegnung stellen. Die dazu notwendigen Beratungen und Planungen haben begonnen.