Das Team des Projekts "BeWEGt – Wegbegleitende Beratung von Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen" lud am 01.12.2021 zur sechsten digitalen Veranstaltung der Themenreihe „Wege finden“ ein. Gast an diesem Abend war Frau Prof. Dr. Christa Büker der Fachhochschule Bielefeld, die zum Thema Unterstützungsbedarfe und gesundheitliche Situation von Müttern mit einem Kind mit Behinderung referierte.
Mütter von Kindern mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen werden im Alltag mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Frau Prof. Dr. Büker befasste sich im Jahr 2010 in ihrer Studie damit, wie Mütter diese Herausforderungen bewältigen und wie sich das Bewältigungsgeschehen im Zeitverlauf verändert. Bewusst richtetet sie den Fokus auf die Mütter, da sie in aller Regel diejenigen sind, die vorrangig die Pflege und Versorgung der Kinder leisten. Im Ergebnis wird ein aus fünf Stufen bestehender Prozess des Bewältigungshandelns sichtbar. In diesem Prozess vollziehen die pflegenden Mütter nach dem Herauslösen aus anfänglich tiefer Erschütterung und Hilflosigkeit eine beeindruckende Entwicklung hin zu einem Spezialistentum. Informieren, Lernen und Kompetenzerwerb bilden hierbei einen Schlüssel zur Bewältigung. Diese Phasen verlaufen nicht gradlinig. Je nach Krankheitsverlauf des Kindes gibt es neuen Informationsbedarf und Anpassungsbemühungen der Mütter, so dass Rückschleifen entstehen. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass wirksame Unterstützungsmaßnahmen sich entlang des Bewältigungsprozesses orientieren müssen. Obwohl die Erkenntnisse von Frau Büker bereits über 10 Jahre vorliegen, fehlt es in der Praxis immer noch an Gesamtkonzepten, die den speziellen Bedürfnissen der Mütter Rechnung tragen und passgenaue Unterstützung zum richtigen Zeitpunkt bereithalten. In der zweiten Studie, die Frau Prof. Dr. Büker an diesem Abend vorstellt, widmet Sie sich der Gesundheit der pflegenden Mütter. Die Tatsache, dass den meisten Müttern eine Bewältigung ihrer Lebenssituation gelingt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mütter im wahrsten Sinne des Wortes „Schwerstarbeit" verrichten, so Frau Prof. Dr. Büker. Während Pflegende Angehörige in der Seniorenpflege im Schnitt fünf Jahre pflegen, pflegen Mütter ihre Kinder teils über Jahrzehnte bis ins späte Erwachsenenalter und vollziehen somit „körperliche Höchstleistungen“. In den durchgeführten Interviews berichteten die Müttern von schmerzenden Verschleißerscheinungen am Bewegungsapparat, von chronischen Schlafstörungen sowie chronischer Erschöpfung. Hinzu kommen Beschwerden wie chronisches Stressempfinden, depressive Verstimmung, Grübeleien bis hin zu Burnout-Symptomen. Die Frauen erleben Einschränkungen in der Leistungs- und Funktionsfähigkeit sowie soziale Isolation und eine verringerte gesellschaftliche Teilhabe. Ihren Wünschen nach Unterstützung und Entlastung wird im deutschen Gesundheits- und Sozialsystem immer noch nicht hinreichend berücksichtigt. Nach wie vor erfolgt eine Konzentration auf das gesundheitlich beeinträchtigte Kind, während den Bedürfnissen der Familienmitglieder wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In der anschließenden Diskussion berichteten die 20 Teilnehmerinnen des Abends, dass sie sich in den Ausführungen von Frau Prof. Dr. Büker wiederfanden. Sie bestätigten die Ergebnisse und berichteten, dass es zwar gesetzliche Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger im SGB XI gibt, diese jedoch nicht den spezifischen Bedarfen pflegender Mütter ausreichend berücksichtigen und nicht für eine wirksame Entlastung ausreichen.
Neben der Pflege des Kindes mit Beeinträchtigung kommt die bestehende Schulpflicht des Kindes, der die Eltern nachkommen müssen, sowie die berechtigten Aufmerksamkeitsansprüche von Geschwisterkindern hinzu. Insbesondere zur Zeit der Covid-19 Pandemie fühlten sich die Eltern mit der Pflege, Betreuung und Beschulung ihrer Kinder sehr allein gelassen. Der Alltag ihrer Familien unterscheidet sich deutlich vom Alltag älterer pflegebedürftiger Menschen, auf deren Bedürfnisse die Sozialgesetzgebung ausgerichtet ist, bestätigten die Teilnehmerinnen.
Das Gesetz sieht zwar Entlastungsmöglichkeiten vor. In der Praxis sind jedoch zu wenige Kurzzeitpflegeeinrichtungen und Familienentlastende Dienste für Kinder vorhanden. Auch Ferien- und Freizeitangebote für Kinder mit Beeinträchtigungen gibt es kaum und sind, wenn vorhanden, oftmals nicht für die Familien finanzierbar. Hier sehen die Teilnehmerinnen einen großen Optimierungsbedarf, der dafür Sorge tragen kann, dass Mütter entlastet werden und dauerhaft ihre Kinder zu Hause pflegen können.
Mütter bzw. Familien von Kindern mit einer Beeinträchtigung sind in jeder Situation rund um die Uhr für ihr Kind zuständig. Ein Kind mit einer Beeinträchtigung stellt nochmal höhere Anforderungen an seine Familie. Familien können und wollen sich dem nicht entziehen. Diese unveränderbare Tatsache kann erleichtert und unterstützt werden, in dem den Familien eine lebenslaufbegleitende Beratung, die die Bedürfnisse aller Familienmitglieder in den Blick nimmt, zur Verfügung steht und zu einer Entlastung des Familiensystems führt.